Wenn jeder Satz ein Gedicht wird

„Mein Leben auf dem Dorf begann mit Schrecken und Verwirrung.“ Kommt Ihnen das bekannt vor? Berichtet hier einer, den es aus den westdeutschen Großstädten ins Brandenburgische verschlagen hat, von seinen ersten Erlebnissen? Nicht ins Brandenburgische führt uns dieser Roman, sondern nach Gloucester, an der Grenze zwischen England und Wales, nicht in die 90er Jahre, sondern in den Sommer 1918. Das Jahr, in dem Laurie Lee, drei Jahre alt, vom Wagen eines Fuhrmanns in das kopfhohe Junigras gesetzt wird, und seine bewusste Erinnerung einsetzt.

Und schon nach den ersten Sätzen ist zu verstehen, weshalb sein Roman „Cider mit Rosie“ zu den besten Kindheitserinnerungen der Literatur zählt. Allein die sprachliche Gestaltungskraft, mit der Natur, Alltagsleben und die Menschen darin liebevoll, humorvoll und nachdenklich geschildert werden, nimmt den Leser gefangen. Mitunter ist jeder Satz wie ein Gedicht.

Den Roman zu lesen ist eine Reise in die Vergangenheit, dort werden Menschen geschildert, die im England des 19. Jahrhunderts geboren wurden, deren Leben nur wenig Perspektiven bot: „Man arbeitete entweder für den Squire, auf einer Farm oder in den Fabriken…“ Man meint hier oftmals Mann, denn die jungen Mädchen hatten sich um die Geschwister zu sorgen und den Haushalt zu bestellen. Kamen sie als Dienstmädchen, Köchin oder gar Zofe in Stellung, lernten sie allerdings mehr von der Welt kennen und stießen an die Grenzen ihrer Zeit. In der Mutter des Ich-Erzählers trafen unterdrückte Fähigkeiten, Empfindsamkeit und Impulsivität auf die raue Wirklichkeit eines Haushaltes mit sieben Kindern und ohne Vater. Lee erinnert sich mit einem lachenden und einem weinenden Auge: „… blieb sie ein Mädchen vom Lande, unordentlich, hysterisch, mit einem großen Herzen voller Liebe. Ein Wirrkopf, durchtrieben wie eine Elster. Sie baute ihr Nest aus Lumpen wie aus Edelsteinen, war glücklich wenn die Sonne schien, krächzte laut, wenn Gefahr drohte, mischte sich in alles ein, unersättlich in ihrer Neugier, vergaß die Mahlzeiten oder stopfte sich den ganzen Tag lang voll und sang, …Sie lebte wie eine Blume auf dem Feld, liebte die Welt und machte keine Pläne, hatte einen raschen, klaren Blick für die Wunder der Natur und hätte um nichts in der Welt ihr Haus in Ordnung halten können.“

Die englische Gesellschaft nach dem 1. Weltkrieg war eine andere, modernere, offenere geworden. Sie bot jungen Menschen größere Freiräume, mehr Entwicklungsmöglichkeiten, aber zugleich war sie ein Abschied aus einer Vergangenheit, in deren Winkeln noch „Geister und Gesetze aus den fernen Zeiten der Vorväter“ dräuten. Laurie Lee (1914-1997) war gerade am Ende dieses Zeitalters zur Welt gekommen und vermittelt deshalb noch einen „Hauch von diesen Dingen, die so alt waren wie die Gletscher“.

In den Erinnerungen unserer Großeltern und Urgroßeltern wird es ähnliche Bilder gegeben haben, nur Bruchstücke davon haben wir in unserem Gedächtnis bewahrt. Das dörfliche Leben in Deutschland um 1920 unterschied sich nicht sehr von dem in England und ist Geschichte. Aber wie sie Laurie Lee erzählt, das hat eine zeitlose Dimension: Bilder vom Entstehen und Vergehen des Lebens, von Sommern und Wintern, von den Beziehungen der Menschen untereinander, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, ihrer Wahrnehmung des Lebensraumes der Kindheit, geprägt durch Unbekümmertheit und Neugierde, die Entdeckung der Welt, gipfelnd im Cider mit Rosie. Da treffen die heutige Leserin, der heutige Leser auf den kleinen Jungen von 1918, blicken beide mit gleichen Gedanken und Gefühlen auf ihre Kindheit zurück. Und dieser Blick ist ein fröhlicher.

Vom Unionsverlag Zürich wurde der 1959 erschienene Roman, der mehrfach verfilmt wurde, neu herausgegeben. Die dafür verwendete Übersetzung von Pociao und Walter Hartmann wird der poetischen Genauigkeit des Autors überzeugend gerecht, von dem der Guardian meinte, dass er schreibe, wie eine Nachtigall singt.

Lee, Laurie: Cider mit Rosie. Unionsverlag Zürich, 2020.

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